ein ergänzendes Wohnmodell
Angelika Stuchlik vom Verein „ich bin aktiv”, Down-Syndrom Tagung September 2015, T4
Von der Geburt bis zum Alt-Werden bewegt sich der Mensch in vielen unterschiedlichen sozialen Kontexten und Lebensbereichen:
Üblicherweise bis zum 3. Lebensjahr in einem familiären Kontext, dann im Kindergarten, in der Schule, in einer Ausbildung, weiters in einem Berufsfeld, in der eigenen Wohnung, oft dann in der eigenen Familie bis hin zu der einen oder anderen Form von Begleitung und Unterstützung im Alter.
Die seit 2008 von Österreich ratifizierte UN Konvention sieht im Artikel 3 über die allgemeinen Grundsätze die volle und wirksame Teilhabe von Menschen mit Behinderung an der Gesellschaft und die Einbeziehung in die Gesellschaft vor, fordert Chancengleichheit und Zugänglichkeit und bezieht sich dabei auf alle oben genannten Lebensabschnitte.
Bei manchen dieser Themen arbeiten schon viele VertreterInnen und SelbstvertreterInnen daran, dass Menschen mit Down-Syndrom partizipieren können, das heißt: gleichberechtigt und gleichwertig voll und wirksam am gesellschaftlichen Leben Anteil haben können.
Bewusstsein für Inklusion auch beim Thema Wohnen?
Bewusstheit für Inklusion wächst zum Beispiel in Bezug auf Bildung (Kindergarten, Schule, Ausbildung) oder die Zugänglichkeit von Informationen (Texte in leichter Sprache) oder Arbeit (am freien Arbeitsmarkt beschäftigt sein, selber versichert sein und Geld für die Arbeit bekommen …). Für das inklusive Wohnen von Menschen mit Behinderung gibt es jedoch sehr wenige Initiativen und vor allem keine sozialpolitische Auseinandersetzung mit diesem wesentlichen Thema, das die private Lebensqualität entscheidend mitbestimmt.
Das Wohnen wird in der UN Konvention im Artikel 19 im Rahmen der unabhängigen Lebensführung behandelt und besagt unter 19 a), dass Menschen mit Behinderung gleichberechtigt die Möglichkeit haben, ihren Aufenthaltsort zu wählen und zu entscheiden, wo und mit wem sie leben und nicht verpflichtet sind, in besonderen Wohnformen zu leben.
Wo wohnen Menschen mit Down-Syndrom?
Aber wo wohnen Menschen mit DS derzeit wirklich, wenn sie erwachsen sind, wenn sie, wie ihre Geschwister oder andere junge Menschen ohne Behinderung von zu Hause ausziehen wollen?
Hier kommt Österreich einer ebenfalls in der UN Konvention festgelegten Verpflichtung nicht nach: Artikel 31 verlangt die Sammlung von statistischen Daten, die es ermöglichen, politische Konzepte im Rahmen dieses Übereinkommens auszuarbeiten und umzusetzen. Im Artikel 31 (3) wird dazu noch die Übernahme der Verantwortung verlangt, dass diese Statistiken für Menschen mit Behinderung auch zugänglich sind.
Es gibt derzeit keine schlüssige Erhebung, wie viele Menschen mit Behinderung im Erwachsenenalter selbstständig oder bei ihren Familien wohnen. Dr. Buchinger übermittelte eine grobe Schätzung, dass in Österreich ca. 21.000 Menschen mit Behinderung von Trägern in Tagesstrukturen versorgt werden und davon 13.000 auch von diesen wohnversorgt werden.
Genaue Statistiken, darüber wo die restlichen 8.000 Menschen leben, gibt es nicht. Mag. Tobias Buchner von der Universität Wien hat am IASSIDD Kongress 2014 eine Erhebung über die Wohnversorgung von Menschen mit schwerer Behinderung präsentiert, die besagt, dass 26% in Wohnheimen mit mehr als 100 BewohnerInnen, 20% in Wohnheimen mit 20-50 BewohnerInnen und 33% in Wohnheimen mit 10-20 BewohnerInnen leben. Nur 13% wohnen in Gemeinschaften von 0-10 Personen.
Dabei geht es beim Wohnen um den privatesten Lebensbereich überhaupt. Der Wohnplatz steht für Intimität, Begegnung, Rückzug, den eigenen Wohn- und Lebensstil, das Sich-Wohlfühlen, das Bedürfnis nach Ruhe oder Gemeinschaft und vieles andere, das den Alltag wesentlich mitbestimmt.
Der Nationale Aktionsplan weist sehr deutlich aus, woran in den kommenden Jahren in Österreich gearbeitet wird. Die Anforderungen der UN Konvention werden überhaupt nicht angesprochen, vielmehr wird unter Artikel 6 „Selbstbestimmtes Leben allgemein“ bei 6.1. Empowerment, Angebotsvielfalt und im Bereich des Wohnens als Zielsetzung ein umfassendes Programm der Deinstitutionalisierung gefordert. Mag. Buchners Zahlen sprechen in diesem Zusammenhang für sich.
Wohnangebote in Österreich
In Österreich bestehen die Wohnangebote für Menschen mit Behinderung im Wesentlichen aus vollbetreutem Wohnen, aus teilbetreutem Wohnen mit unterschiedlichen Differenzierungen (z.B. Trainingswohnung als Vorbereitung zum Alleinewohnen, betreutes Wohnen, wo stundenweise pro Woche ein Betreuer zur Verfügung steht, und beispielsweise der/die KlientIn zu bestimmten Zeiten ins Begegnungszentrum kommt …) und aus dem Alleinewohnen zu leistbaren Bedingungen. In letzter Zeit gibt es immer mehr private Initiativen, die mit viel persönlichem Einsatz versuchen, gute Wohnmöglichkeiten für ihre Kinder zu schaffen.
Nun gibt es bereits „best practice“ Beispiele u.a. in München, Reutlingen, Saarland, wo seit mehreren Jahrzehnten erfolgreich Menschen mit Behinderung und Menschen ohne Behinderung als gleichwertige BewohnerInnen ihren Wohnalltag gemeinsam mit einer hauptamtlichen Fachkraft gestalten. Leider gibt es aber noch keine dieser Modelle in Österreich.
Der Verein „Ich bin aktiv“ ist in Austausch mit diesen WGs, hat ein Konzept erarbeitet, das die rechtlichen und finanziellen Gegebenheiten in Wien berücksichtigt und plant, zwei inklusive WGs in Wien als Ergänzung zu bestehenden Wohnformen zu errichten.
Es ist für jeden Menschen, auch für Menschen mit Down-Syndrom, entscheidend:
- ob er/sie sich jeden Tag in seinen/ihren 4 Wänden wohlfühlt
- ob er/sie mitentscheiden kann, wo und mit wem er/sie gemeinsam wohnen will
- ob er/sie mitentscheiden kann, wer im Alltag hilft
- ob er/sie mitentscheiden kann, nach welchem Regelwerk der Wohnalltag gestaltet wird
- ob er/sie sich, wie andere junge Leute ohne Behinderung auch, noch Weiterbildung, Freizeit (Sport, Theater, Kurse, Urlaub …) leisten kann
- ob er/sie mit jungen Menschen, die keine Behinderung haben, als gleichwertige MitbewohnerIn in einer WG zusammen wohnen will
- ob er/sie das bisherige soziale Netz behalten, sukzessive neue Kontakte gewinnen und Gepflogenheiten dazu lernen kann …
Alltag von Menschen mit Down-Syndrom
Immer mehr junge Menschen mit Down-Syndrom schaffen ihren Alltag mit so wenig Unterstützung wie nötig und so viel Selbstständigkeit als möglich, weil sie immer schon an den Aktivitäten ihrer Familie, der Freunde und Bekannten, am Arbeitsplatz ohne Barrieren eingebunden waren und jene individuelle Unterstützung haben, die sie brauchen. Warum soll das beim Wohnen also anders sein, wo es doch auch seit 2008 durch die UN Konvention so vorgesehen ist?
Es soll der Alltag nicht nur mit BewohnerInnen mit Behinderung gestaltet werden. Allerdings muss auch berücksichtigt werden, dass viele Menschen mit Down-Syndrom nicht nur zu bestimmten festgelegten Zeiten von einer Fachkraft betreut werden sollten, da die Gefahr der Vereinsamung, Isolierung und Überforderung besteht und sie jemanden zum Ansprechen, Austauschen, für Anregungen brauchen.
Inklusives Wohnen bietet eine Chance
- ein ganz „normales“ WG-Leben gestalten zu können,
- mit Menschen ohne Behinderung Erfahrungen austauschen zu können,
- voneinander lernen zu können,
- gegenseitige Bereicherung zu erfahren,
- Fähigkeiten weiterentwickeln zu können,
- und doch den Anschluss an das bisherige soziale Netz beizubehalten,
- und dabei in altersgemäße, neue Aktivitäten hineinwachsen zu können.
Das sind die Ziele, an denen der Verein „Ich bin aktiv“ arbeitet. Dazu ist aber wiederum nicht umsonst und vorausschauend in der UN Konvention im Artikel 4 „Allgemeine Verpflichtungen“ verankert, dass die Staaten die Verpflichtung zu Maßnahmen zur Umsetzung der Rechte von Menschen mit Behinderung haben, einschließlich gesetzgeberischer Maßnahmen zur Änderung und Aufhebung von Gesetzen, Verordnungen, Gepflogenheiten und Praktiken.
In Bezug auf inklusives Wohnen bedeutet dies u.a. mehr Flexibilität in der Handhabe von schon vorhandenen Förderschienen.
Der Weg bis zur Realisierung ist nicht einfach, weil Inklusion eine Querschnittmaterie ist, die sehr viele Bereiche betrifft, angefangen u.a. bei gesetzlichen Gegebenheiten, der Finanzierung, der Qualitätssicherung, der Kooperation mit Bauträgern und anderen Organisationen der inneren Organisation und nicht zuletzt den individuellen Möglichkeiten der direkt betroffenen Personen, die einen Konsens über ihre Vorstellungen finden sollen.
„Wie die Menschen denken und leben, so bauen und wohnen sie“ (J.G. Herder).
„Ich bin aktiv“ denkt und lebt inklusiv und so wollen wir auch solche Wohnmöglichkeiten schaffen, in denen dieser Grundsatz realisierbar ist.