Mein Kind übersiedelt

Chancen und Probleme in der Zusammenarbeit mit Institutionen

von Otto Lambauer, Caritas Wien, >> Caritas Wien, Menschen mit Behinderung
aus dem Sonderheft “Mittendrin” zur Down-Syndrom-Tagung 2006 in St.Virgil in Salzburg, herausgegeben von DSÖ, Institut Leben Lachen Lernen

 

Seit über 20 Jahren bin ich in verschiedenen Behinderteneinrichtungen der Caritas Wien tätig, erst als Musiktherapeut, dann 10 Jahre als pädagogischer Leiter einer großen Wohneinrichtung mit angeschlossener Beschäftigungstherapie und nun als Mitarbeiter im Bereich Behinderteneinrichtungen, zuständig für Projekte und Grundlagenarbeit.

 

Wir betreuen in der Caritas Wien ca. 700 Menschen mit Behinderung in unseren Wohneinrichtungen und Beschäftigungstherapieeinrichtungen und unterstützen in unseren Beratungseinrichtungen Clearing, Berufsausbildungsassistenz und Arbeitsassistenz jährlich ca. 300 KlientInnen.

 

Als ich begonnen habe, bei der Caritas zu arbeiten, hatten wir großteils Menschen in Betreuung, die kaum mehr Kontakt zu ihren Angehörigen hatten. Viele von ihnen kamen nach jahrelangen Psychiatrieaufenthalten zu uns, die Kinder und Jugendlichen in unseren Kindereinrichtungen kamen aus zerrütteten Familienverhältnissen und wurden als Jugendwohlfahrtsmaßnahme in einer Einrichtung untergebracht. Arbeit mit Angehörigen war also für uns von der Caritas kaum ein Thema.

 

In den letzten Jahren hat sich das stark geändert. Die Menschen, die unsere Erwachseneneinrichtung (Wohngruppen und Werkstätten) aufsuchen, kommen großteils von zu Hause, haben also meist bis zur Übersiedlung zu uns bei den Eltern gewohnt und wir haben nun auch bereits 3 Einrichtungen in Kooperation mit Elterninitiativen aufgebaut, eine vierte ist im Entstehen. Im Rahmen einer Equal-Entwicklungspartnerschaft in NÖ arbeiten wir auch eng mit einer Elterninitiative zusammen (Integration NÖ) und ich konnte so intensiv die Sicht der Eltern kennen lernen.

 

Ablösung vom Elternhaus

 

Ich will einige Gedanken über die Situation in Institutionen voranstellen und beziehe mich dabei auf die Situation v.a. in NÖ, die ich aufgrund meiner langjährigen Tätigkeit am besten kenne. Ich denke, der Verweis auf das Bundesland ist wichtig, da die Behindertenhilfe in Österreich als Sozialhilfe aufgebaut ist und in die Hoheitsgewalt der Bundesländer fällt. Dadurch stellt sich die Situation für Menschen mit Behinderung in den einzelnen Bundesländern durchaus verschieden dar, v.a. was die finanzielle Ausstattung betrifft. Aber es gibt auch Unterschiede je nachdem, ob man in ländlichem oder städtischem Gebiet heranwächst. Die Problematik der Ablösung vom Elternhaus ist natürlich überall die gleiche.

 

Einrichtungen der Behindertenhilfe unterliegen bestimmten Zwängen.

 

Die Wohnbetreuung erfolgt in Gruppen. Der Mensch, der aus der Familie auszieht, bekam bis zu seinem Auszug häufig eine sehr intensive und individuelle persönliche Betreuung und wohnt nun plötzlich mit sechs bis zwölf anderen Erwachsenen zusammen.

 

Wir haben in unseren Einrichtungen fast nur mehr Einzelzimmer, auf Wunsch gibt es auch Zweibettzimmer. Aber alle BewohnerInnen einer Wohngruppen teilen sich die Allgemeinräume, wie Wohnzimmer, Küche, Stube Gänge, Esszimmer usw. zwei bis drei BewohnerInnen teilen sich die Sanitärräume, Toilette und Bad.

 

Das Zusammenleben einer doch relativ großen Gruppe erwachsener Menschen, die (und deshalb wohnen sie ja in einer vollbetreuten Wohngruppe) in verschiedenen Belangen des täglichen Lebens auf Assistenz angewiesen sind, führt natürlich auch zu Spannungen und Streitereien. Erschwerend kann noch dazu kommen, dass die BewohnerInnen sich ihre MitbewohnerInnen in den meisten Fällen nicht selbst ausgesucht haben, da Wohnplätze meist rar sind.

 

Unterstützt werden die Menschen mit Behinderungen von zwei bis drei BetreuerInnen, die Anzahl hängt vom notwendigen Unterstützungsbedarf der BewohnerInnen ab. Trotz flexibel gestalteter Dienstpläne gibt es natürlich Kernzeiten, in denen ein besonders dichtes Betreuungssetting herrscht und Zeiten, in denen wenige BetreuerInnen anwesend sind. Da geht es dann hauptsächlich um Aufsicht in den Abend- und Nachtstunden. Trotz aller Versuche, möglichst auf die jeweils individuellen Bedürfnisse einzugehen, sind also alleine schon aus der Begrenzung der personellen Ressourcen heraus gewisse Grenzen gesetzt. Wir versuchen das in unseren Einrichtungen, wie es meines Wissens in vielen Einrichtungen der Behindertenhilfe der Fall ist, durch das so genannte Bezugsbetreuerinnensystem auszugleichen: jede Betreuerin und jeder Betreuer einer Gruppe hat ca. zwei KlientInnen, für die er/sie eine besondere Bezugsperson darstellt, mit denen sie Wünsche besprechen, notwendige behördliche und medizinische Wege managen, spezielle Ansprechpartner für Gespräche sind.

 

Professionelle Distanz

 

Die BetreuerInnen stehen zu den BewohnerInnen in den Wohngruppen in einem professionellen Verhältnis, in einer durchaus professionellen Distanz. Professionelle Distanz bedeutet keineswegs Kälte und Lieblosigkeit, sondern muss, um professionell zu sein, Wärme und Empathie (d.h. verstehendes Einfühlungsvermögen in die Situation des Gegenübers) beinhalten. Andererseits ermöglicht diese professionelle Distanz aber auch, die emotionalen Verstrickungen, die es in einigen Beziehungen gibt (und die Beziehungen in Wohngruppen sind manchmal sehr eng) zu reflektieren und so immer wieder Vorgehensweisen zu wählen, die eine möglichst hohe Selbständigkeit und Selbstbestimmung der Menschen mit Behinderung gewährleisten.

 

Die Aufgabe, die sich den BetreuerInnen in unseren Einrichtungen stellt, ist, die BewohnerInnen immer als erwachsene Menschen zu sehen, dabei aber natürlich nicht die kognitive Einschränkung oder auch die emotionale Entwicklungsverzögerung außer Acht zu lassen. Aber trotzdem: Menschen, die in unsere Wohneinrichtungen übersiedeln sind dem kalendarischen Alter gemäß keine Kinder mehr, selten Jugendliche sondern meist (junge) Erwachsene – in diese Rolle sollen sie sich entwickeln können.

 

Eltern erleben ihre Kinder natürlich in andern Rollen und ich, als Vater eines in der Zwischenzeit 25-jährigen Sohnes, kann das gut verstehen. Sie als Eltern haben jahrelang die Aufgabe gehabt, für ihr Kind zu sorgen und darauf zu achten, dass es eine bestmögliche Entwicklung und Förderung erfährt. Ich weiß aus vielen Gesprächen, dass das häufig ein mühseliger Prozess ist. Viele Fördermöglichkeiten muss man erkämpfen, oft sind die möglichen Unterstützungsstrukturen (auch finanzieller Natur) nur nachintensivem Nachfragen zu erfahren. Immer wieder taucht die Frage auf, ob man denn auch wirklich die beste Lösung für das Kind gefunden hat, was meiner Meinung nach auch mit der Situation zusammenhängt, dass von Ämtern und Professionisten einerseits zu früh die Meinung vertreten wird, das sei nun einmal so: die Situation für das Kind müsse man akzeptieren. Später erkennt man vielleicht, dass es ja doch noch die Möglichkeit einer besonderen Förderung gibt bzw. man erfährt über Angebote, die es in anderen Regionen gibt, aber nicht am Heimatort. Und vielleicht erlebt man auch, dass durch Einsatz und ständiges Nachfragen Situationen geändert werden können. Andererseits gibt es aber auch die Professionisten (Therapeuten meist), die durch eine weitere Therapie oder Operation (oder was es sonst noch alles gibt) eine Besserung versprechen. Und ein inzwischen unüberschaubares Angebot an Therapien jeglicher Art schafft bei vielen Eltern große Verwirrung und Unsicherheit.

 

Diese schwierige Situation erlebe ich für Eltern von Menschen mit Behinderung und verstehe dann auch, dass sie sich mit den Gegebenheiten oft nicht zufrieden geben und diese kritisch hinterfragen – und das ist gut so, wenn auch für die MitarbeiterInnen von den Institutionen manchmal mühsam.

 

Weg ins Erwachsenenleben

 

Aber sie als Eltern erleben ihre Kinder auch als Kinder, vielleicht noch zu Zeiten, wo diese eigentlich den Weg ins Erwachsenenleben gehen müssen. Und auch das ist verständlich. Menschen mit intellektueller Behinderung sind von den Unterstützungsleistungen anderer (v.a. auch der Solidargemeinschaft) länger abhängig – meist lebenslang – als Menschen ohne Behinderung. Sie als Eltern erleben diese Abhängigkeit, die sie vielleicht manchmal vergessen lässt, dass ihre Kinder – mit Assistenz – auch eigenständig, selbständig sind und erwachsen werden.

 

Wir erleben diese Diskrepanz in unseren Einrichtungen dann, wenn die Eltern jeden Schritt des Kindes weiter überwachen, schauen, ob es wohl ordentlich gekleidet ist (denken sie daran, wie Jugendliche ohne Behinderung häufig durch Kleidung ihre notwendige Ablösung von den Eltern zum Ausdruck bringen), der Kleiderkasten im Zimmer richtig eingeräumt ist und ähnliches.

 

Ein wichtiger Aspekt ist auch die Sexualität. Hier wirkt sich die Diskrepanz zwischen Vorstellungen, bei dem eigenen Kind würde dieses Thema keine Rolle spielen zu der Möglichkeit, erwachsene Formen sexuellen Lebens zu leben besonders stark aus.

 

Was ist aus den oben dargestellten Ausführungen zu lernen:

  1. Rechtzeitige Übersiedlung: Die Übersiedlung des erwachsen gewordenen Kindes in eine Wohnung außerhalb des Familienverbundes ist für die Entwicklung des Kindes, aber auch für die Entwicklung der Eltern ein wichtiger Schritt und sollte nicht zu spät erfolgen.
  2. Loslassen und Vertrauen: Dieser Schritt ist für alle Beteiligten ein aufregender, die bisher im Familienverband lebenden Kinder kommen in für sie neue Situationen, lernen neue Menschen kennen, müssen sich auf Situationen einstellen, die ungewohnt sind – plötzliche steht man vielleicht nicht mehr im Mittelpunkt – aber auch die Eltern müssen lernen, los zu lassen. Vertrauen zu haben in die Entwicklungsfähigkeit des Kindes, darauf, dass in der Wohneinrichtung gute Arbeit geleistet wird.
  3. Gute, ehrliche Kommunikation: Das bedarf einer guten Kommunikation zwischen Institution, Wohneinrichtung, MitarbeiterInnen der Wohneinrichtung und Eltern. Schon vor dem Umzug sollte diese beginnen und sie muss ehrlich sein, auch von Seiten der Institution. Die strukturellen Einschränkungen müssen genauso angesprochen werden, wie die Ängste der Eltern, aber nicht zuletzt auch die Ängste der Einrichtung, denn auch hier herrschen Ängste und dürfen nicht hinter der professionellen Maske versteckt werden.
  4. Gegenseitiges Verstehen: MitarbeiterInnen von Einrichtungen müssen lernen die Sichtweisen von Eltern zu verstehen, lernen, die Sorgen, die Eltern von Menschen mit Behinderungen haben, auch als Ausdruck der biografischen Erlebnisse zu sehen und nicht als Grundmisstrauen abzuwehren und in das Eck der Nörglereien zu drängen. Andererseits müssen Eltern auch lernen, loszulassen. Nicht jede Verhaltensweise ihres Kindes, die neu ist, ist Ausdruck verwahrlosender Zustände in der Wohneinrichtung. Eltern müssen lernen, es auszuhalten, dass ihre erwachsenen Kinder eigene Wege gehen, manchmal auch Wege, die sie so nicht nachvollziehen können.
  5. Sachliche Kritik: Dies gelingt am besten in einem Dialog, der so geführt wird, dass Institutionen und Eltern sich als ebenbürtige Partner gegenüberstehen, die den jeweils anderen auch in der – manchmal auch berechtigten – Kritik in seinem Bemühen sehen, den Menschen mit Behinderung bestmöglich Entwicklungsmöglichkeiten zu geben. Kritik, wenn sie angebracht wird, sollte gesehen werden als Kritik an der Sache, nicht als Kritik an Personen.

Ich weiß, dass die Zusammenarbeit zwischen Eltern und Institutionen gelingen kann und ich erlebe das in unserer täglichen Arbeit weitaus häufiger als Streitereien und Differenzen. Ich denke, dass es wichtig ist, dass das Dreigestirn “Eltern – Menschen mit Behinderung – Institutionen” gemeinsam für eine Verbesserung der Situation der Menschen mit Behinderungen in unserer Gesellschaft auftritt. Wir als Caritas versuchen hier immer wieder, unseren Beitrag dazu zu leisten.